„Die Attische Tragödie und Komödie als europäisches Kulturerbe“

Vortrag von Prof. Dr. Christoph Helm am 20. September 2019 im Museum Schloss Wolfenbüttel

Wenn man sich mit den Ursprüngen und der Herkunft des europäischen Theaters befasst, dann richtet sich der Blick nicht auf die frühen Hochkulturen Vorderasiens oder Nordafrikas, also die altägyptischen Reiche oder die unterschiedlichen Herrschaftsstrukturen Mesopotamiens oder Kleinasiens, die alle im Neolithikum Einfluss auf den europäischen Kontinent ausübten, der Blick richtet sich auch nicht auf die kretische Thalassokratie, deren Vorherrschaft im 2. Jahrtausend v. Chr. im Östlichen Mittelmeer begann und die eine einzigartige Kultur hinterlassen hat, die noch heute in den Palästen von Knossos und Phaistos nachzuempfinden ist, und der Blick richtet sich auch nicht auf das römische Reich, das für über ein halbes Jahrtausend europäische Geschichte geschrieben hat, aber in der europäischen Theatertradition sich mit der Rolle des Epigonen abfinden musste, sondern der Blick geht ausschließlich auf jenes bis heute bemerkenswerte manchmal auch freche kleine Volk, das wir selbst – einer römischen Tradition folgend – als Griechen bezeichnen, die sich selbst aber ungefähr seit dem 8. Jhdt. v. Chr. Hellenen nennen und ihr Land Hellás.

Diese beiden Namen tauchen, soweit ich sehe, zum ersten Mal schriftlich in der Ilias des Homer auf,

Büste des Homer. Aus: Pietas et maiestas, Hrs. Christoph Helm, S. 104, Wolfenbüttel 2015.

 

Hektors durch Priamos, der Kampf um Troia geschildert wird, dessen Ende die antike Historiographie im Allgemeinen auf das Jahr 1184 v. Chr. datierte. Dort heißt es im 2. Gesang, im sogenannten Schiffskatalog, in dem die 29 Kontingente der Achäer und die 16 der Troer und ihrer Verbündeten aufgezählt werden, der im übrigen für die Lösung der sogenannten Homerischen Frage von zentraler Bedeutung ist, bei der Aufzählung des 21. Kontingentes der Achäer:

„Auch die Phthia bewohnt und Hellas, blühend von Jungfraun;
Myrmidonen genannt, Hellenen zugleich und Achaier:
Diesen in fünfzig Schiffen gebot obhaltend Achilleus.“

(Homer, Ilias, 2. Gesang, Verse 683-685)

Der Name der Landschaft Hellas taucht in der Ilias noch an 4 weiteren Stellen auf, nämlich 9, 395; 9, 447; 9, 478 und 16, 595, meistens wie in unserer Textstelle in Verbindung mit dem Landschaftsnamen Phthia. Einmal gibt es noch in der Ilias einen Textbeleg für Panhellenen (2, 530) wieder in Verbindung mit Achaiern.

Auf der Karte

Aus: Westermann. Großer Atlas zur Weltgeschichte, S. 10, Abb. II, Braunschweig1976.

 

sehen wir die Lage von Hellas im südlichen Thessalien. Es gehört zu einem der Geheimnisse der Alten Geschichte, durch welche Umstände diese kleine Landschaft dem Land insgesamt den Namen geben konnte. Ich möchte vermuten, dass es mit dem gewaltigen Einfluss zusammenhängt, der von der Person und dem Mythos Achills ausging. Neben Herakles ist er der wichtigste und bedeutendste Heros der mykenischen Zeit. Aber anders als Herakles gehört Achill in eine für die Hellenen konkret greifbare historische Situation, er ist Dreh- und Angelpunkt der im Selbstverständnis der Hellenen wichtigsten und längsten Gemeinschaftshandlung ihres Volkes in der Frühzeit, die dank seines Sieges über Hektor zum blendenden Erfolg geführt werden konnte – wohl wissend, dass dieser Sieg auch seinen eigenen Tod bedeute. Göttliche Abstammung, Größe und Tragik zugleich – hieraus ergab sich ein Identifikationsmuster, das sich zur Aneignung anbot.

Wie nun auch immer, jedenfalls finden wir im 8. Jahrhundert die abgeschlossene Mythenbildung vor, wonach ein gewisser Hellen der Stammvater aller Hellenen ist. Danach ist Hellen Sohn von Deukalion und Pyrrha, des Ehepaares, das die Sintflut, die sich offensichtlich als menschliche Grunderfahrung bei sehr vielen Kulturen in das Gedächtnis eingebrannt hat, als einzige in einer Arche überlebt hat.

Hellen hat 3 Söhne: Doros, Aiolos und Xuthos, letzterer wiederum die Söhne Ion und Achaios.

Daraus ergibt sich folgende Genealogie:

Durch diese Genealogie haben wir somit die wichtigsten Stämme der Hellenen wiedergegeben, wie sie sich im 8. Jahrhundert herausbilden.

  1. Achaioi ist neben Danaoi und Argeioi der Name der Hellenen in mykenischer Zeit.
  2. Aioler und Ioner sind die Stämme in nachmykenischer Zeit, die ethnologisch auf das mykenische Substrat zurückgehen.
  3. Die Dorer sind neuankommende Hellenen, die nicht auf das mykenische Substrat zurückgehen.

Geographisch haben wir folgende Situation:

Aus: Putzger, Historischer Weltatlas, S. 29, Abb. III, Berlin 2001.

 

Daraus ergibt sich folgende historische Einteilung der Geschichte von Hellas.

Chronologie             

 

 

  1. Epocheneinteilung:

Ur-und Frühgeschichte;          Antike;                  Mittelalter;                            Neuzeit
Bis 5000 v.Chr.                                                         ab 500 n.Chr.                       ab 1500 n.Chr.
Neolithikum                              Neolithikum
Bronzezeit
(ab 2500 v.)
Eisenzeit
Hochkulturen

 

  1. Griechische Geschichte:

a.: Vor 1900 v.Chr.: Mediterrane, frühhelladische Kultur, Pelasker, Minoer
b.: Ab 1900 v.Chr.: Erste Indogermanische Einwanderung, Protogriechen
c.: Bis 1600 v.Chr.: Mittelhelladisch. Auf Kreta: Minoische Paläste, Knossos, Phaistos
d.: Bis 1200 v.Chr.: Festland: Späthelladische, Mykenische, Homerische Kultur, Mykene,
Tiryns, Pylos, Phthia, Thessalien, Linear B
Kreta: Linear A (Hieroglyphen),in Knossos Linear B ab 1450 v.
(entziffert durch Michael Ventris 1952 n.)
Kleinasien: Hethiter, Wilusa (Troja), Luwer und andere
e.: Ab 1200 bis 900 v:Von den Illyrern ausgehende Dorische Wanderung. Thraker u.a.
Stammesbildung und Atomisierung der Hellenen auf dem
Festland, den Inseln und in Kleinasien: Äoler, Ioner, Dorer,
Nordwestgriechen
f.: 900 bis 500 v.Chr.: Archaik
g.:500 bis 300 v.Chr. : Klassik
h.:300 bis 30 v.Chr.:   Hellenismus
i.: 30 v. bis 500 n.Chr.:Römisches Reich
k.: 500n.bis 1453 n.Chr.: Byzanz
l.: 1453 n. bis 1832 n.Chr.: Türkische Besetzung
m.: 1832 bis heute: Neuzeitliches Hellas, 1922: Vertreibung der Hellenen aus Kleinasien

 

Noch einmal zurück zur mykenischen Zeit, die aus zwei Gründen eine wichtige Vorlaufphase für die Theatertradition darstellt, wie sie sich dann in der klassischen Zeit herausbildet.

Es sind einmal die Mythen, die in dieser Zeit entstehen und die in irgendeiner Form an Ereignisse anknüpfen, die einen realen Hintergrund in der Geschichte haben. Wir wissen, dass die Achäer raue Krieger waren, die durch kriegerische Handlungen Macht, Reichtum und Ruhm suchten. Ursprünglich Neuankömmlinge im ägäischen Raum, greifen sie im 15. Jahrhundert auf Kreta und die Kleinasien vorgelagerten Inseln über, gründen später Milet und weitere Niederlassungen in Kleinasien und unternehmen Beutezüge in die nördliche Ägäis und ins Schwarze Meer. Relikte dieser stolze Erinnerungen hervorrufenden Ereignisse finden wir in den Sagen von Theseus, Ariadne und dem Minotaurus, der Sage vom Zug der Argonauten, dem Troia-Mythos und weiteren Erzählungen, die damit zusammenhängen. Wahrscheinlich ist es so, dass diese durch die Form des Hexameters leichter merkbaren Stoffe in variierenden Einzelliedern je nach Gelegenheit von Rhapsoden an den mykenischen Fürstenhöfen bei festlichen Anlässen vorgetragen wurden und das Selbstverständnis der Führungsschicht widerspiegelten. Anklänge darin finden wir in der Odyssee des Homer, in der am Hofe in Ithaka und bei den Phäaken Rhapsoden wirken, die Einzellieder zur abendlichen Unterhaltung der Gäste vortragen.

Es ist also einmal der mythologische Stoff selbst, der der heroischen Ära oder Ära der Halbgötter angehört, die nach Hesiod, dem nach Homer zweiten großen Dichter des 8. Jhdts., das vierte Zeitalter der Welt bildet, das unserem Zeitalter, dem eisernen, unmittelbar vorausgeht. Zum anderen ist es die Dramatik und Tragik, mit der offensichtlich schon die Rhapsoden in mykenischer Zeit den mythologischen Stoff komponierten und emotionalisierten. Den Höhepunkt dieser schon vorgezeichneten Entwicklung stellt im 8. Jhdt. der Mann dar, der das im Mythos 10-jährige Ringen um Troja und das dazu aus der mykenischen Zeit vorliegende Versmaterial auf die Ereignisse von 51 Tagen verdichtete und mit einer einzigartigen Dramaturgie aus einem Guss versah, die die Tragik des Geschehens und die Tragik der Helden in besonderer Weise hervorhob und miteinander verwob. Diese kompositorische Kunst wurde beispielgebend für die Tragödie, wie sie sich im 5. Jhdt. in Athen entwickelte.

Das ist, wenn Sie so wollen, der Prolog eines Stückes, dessen Hauptteile sich dann in einer Entwicklung entfalteten, die zu immer neuen Höhepunkten menschlicher Kreativität und Ausdruckskraft während des fünften Jahrhunderts in Athen führte.

Was sind nun die Hauptbestandteile dieser Entwicklung? Dazu zunächst einige Begriffserklärungen:

Theater, Tragödie, Komödie, Drama sind griechische Worte. Die dazu gehörigen Übersetzungen:

Theater:          Ort zum Anschauen

Tragödie:        Gesang der Böcke

Komödie:        Gesang beim fröhlichen Fest

Drama:            Handlung

helfen natürlich nicht wirklich weiter. Die Bedeutungen werden erst eindeutiger, wenn man sich klar macht, dass die Ursprünge des Theaters mit dem Kult des Dionysos zusammenhängen, der auch als Gott der Vegetation galt, deren Vergehen und Wieder-Erblühen öffentlich gefeiert wurde. Das Gefolge des Gottes wird dabei häufig bocksfüßig dargestellt;

Aus: Satyr, Maske, Festspiele, Katalog einer Ausstellung der Winckelmann-Gesellschaft, Abb. 165, S. 75, Stendal 2006.

 

der daraus gebildete Chor mit dem Chorführer bestand ausschließlich aus Männern, die die Totenklage des verschwundenen Gottes anstimmten. In mythologischer Erweiterung kam später offensichtlich eine allgemeine Totenklage hinzu, die an die Heroensage anknüpfte. An den großen Dionysien im April wurden dann possenhafte Satyrspiele zu Ehren des wieder erscheinenden Gottes aufgeführt, aus denen sich die Komödie entwickelte. Die innige Verbindung von Tragödie und Komödie mit dem Gott Dionysos wird auch daran erkennbar, dass die Aufführungen in Athen im Kultbereich des Gottes stattfanden, im sogenannten Dionysos-Theater am südlichen Abhang der Akropolis.

 

Aus: Satyr, Maske, Festspiele, Katalog einer Ausstellung der Winckelmann-Gesellschaft, Abb. 3, S. 10, Stendal 2006.

 

Aus: Satyr, Maske, Festspiele, Katalog einer Ausstellung der Winckelmann-Gesellschaft, Abb. 38, S. 29, Stendal 2006.

 

Weitere Charakteristika waren, dass die Schauspieler auf Kothurnen (hohe Korkschuhe) stehend Masken trugen, nur Männer auf der Bühne erlaubt waren, die somit auch weibliche Rollen übernehmen mussten, und es keine Souffleure gab, was hohe Anforderungen an die Schauspieler bedeutete. In der ersten Phase der Tragödie gab es nur einen Schauspieler, der dem Chor und dem Chorführer antwortete. Später kamen ein zweiter und ein dritter Schauspieler dazu, doch blieb dies eine kanonische Zahl, so dass ein Schauspieler mehrere Rollen übernehmen musste, wenn das Stück dies erforderte. So hatte z.B. in der Antigone des Sophokles der 1. Schauspieler die Rolle der Antigone, des Teiresias, des Boten und des Dieners zu übernehmen. Besonderheiten waren die Donnermaschine, ein kupferner Kessel, das Theologeion, ein fester Balkon, auf dem die Götter thronten, das Ekkyklema, eine Herausrollmaschine, durch welche der Hintergrund der Bühne geöffnet wurde, sowie eine weitere Maschine zum Einfliegen der Götter (deus ex machina). Weiterhin übernahmen Boten die Berichte über Ereignisse wie z.B. Schlachten, die auf der Bühne nicht dargestellt werden konnten.

Strukturbestimmend ist weiterhin, dass die klassische Tragödie stets mit einem Prolog beginnt, der entweder einen Monolog oder verschiedene Dialoge beinhaltet. Es folgt der Einzug des Chores, der Parodos, auf den Sprechszenen, sogenannte Epeisodia, das Dazwischenkommende, und Standlieder des Chores, sogenannte Stasima, folgen. In dieser Abfolge wird die Handlung bis zum Höhepunkt, der Peripeteia, und Ausklang der Katastrophe, der Katabasis, das Herabsteigen, getrieben. Der Auszug des Chores, der Exodos, bedeutet das Ende der Tragödie.

 

Gliederung des Dramas:

  1. Prolog ( Monolog oder Dialog )
  2. Parodos ( Einzug des Chores )
  3. Epeisodia ( Sprechszenen zwischen den Chorpartien )
  4. Stasima ( Standlieder des Chores )
  5. Peripeteia ( Höhepunkt des Dramas )
  6. Katabasis ( Ausgang der Katastrophe )
  7. Exodos ( Auszug des Chores )

 

Später, als der Chor wegfiel, bildeten der Prolog, drei Epeisodien und der Exodos die Ausgangsform der fünf Akte des neuzeitlichen Dramas.

Ein weiteres Charakteristikum der klassischen Tragödie ist, dass sie sich mit den Dialogen von maximal drei Schauspielern, die zur selben Zeit auf der Bühne standen, begnügte. Dabei war der Schauspieler ursprünglich die Person, die dem Chor dialoghaft antwortete. Nach antiker Überlieferung soll im Jahre 534 v. Chr. ein gewisser Thespis bei den attischen Dionysien zum ersten Mal den Vorsänger des Chores aus dem Chor herausgelöst und diesem gegenübergestellt haben. Später fügten Aischylos den zweiten und Sophokles den dritten Schauspieler hinzu.

Ich wende mich jetzt der klassischen Tragödie und Komödie im Einzelnen zu, wie sie sich im 5. Jhdt. v. Chr. in einzigartiger Weise in dem von den Ionern besiedelten Attika ausbildeten. Offensichtlich haben wir mit den Ionern, die sich als autochthon bezeichneten und deren Ahnen Träger der mykenischen Kultur waren, den schöpferischsten Teilstamm der Hellenen vor uns, geht doch auf sie auch die Naturphilosophie zurück, die sogenannte Ionische Naturphilosophie, mit der die Suche nach dem Urstoff der Welt begann. Mit Sokrates werden sie die Begründer der Ethik, auf den die bedeutenden Schulen der Akademie und des Peripatos zurückgehen, die sich mit der Frage des sittlich guten Verhaltens des Menschen befassen. Mit Hekataios, Herodot und Thukydides werden sie die Begründer der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, die die Forschung zu einem wesentlichen Bestandteil der Historiographie erhebt.

Die klassische Tragödie des 5. Jhdts. ist mit den Namen Aischylos, Sophokles und Euripides verbunden, auf deren Wirken ich mich konzentrieren möchte, die mit über 300 Dramen hervortraten und strukturbildende Höhepunkte tragischer Schaffenskunst hervorbrachten.

Aischylos, geb. 525, gest. 456 v. Chr., ist der älteste aus dieser Reihe.

 

Aischylos, 10 Euro Gedenkmünze, Griechenland 2012.

 

Aus adligem Geschlecht stammend führt er seine Familie auf den letzten König von Athen zurück. Er ist geprägt durch den äußeren Abwehrkampf, den die Hellenen unter Athens Führung seit dem Ionischen Aufstand gegen Persiens Weltherrschaftsanspruch führen mussten, um ihre äußere Freiheit zu erhalten. An den Schlachten von Marathon, Salamis und Plataiai hat er persönlich teilgenommen und ist damit Exponent der Generation, die vom Stolz auf das einheitliche Handeln aller Hellenen unter Athens Ägide zur Abwehr des äußeren Feindes getragen ist. Aus der Retrospektive betrachtet stellt dann auch die Zeit von 490-479 den Höhepunkt hellenischer Geschichte dar. Innenpolitisch ist er – entgegen seiner aristokratischen Herkunft – Anhänger und Befürworter der demokratischen Reformen, die Kleisthenes ab 510 und Themistokles vor 480 v. Chr. durchsetzten. Wahrscheinlich hat er auch das Wirken des jungen Perikles, der die Volksherrschaft zur Vollendung führte, persönlich miterlebt, bevor er nach Sizilien aufbrach, wo er 456 v. Chr. tragisch starb.

 

Zeittafel

J. v. Chr.

525                 Geburt

499-496          Erste Beteiligung am Wettstreit

490                  Marathon

484                  Erster Sieg im Wettstreit

480                  Salamis

479                  Plataiai

472                  Perser

nach 472         Reise nach Sizilien

468                  Niederlage gegen Sophokles

467                  Die Sieben gegen Theben

(?)                   Prometheus

463 (?)            Die Schutzflehenden

458                  Orestie

nach 458         Reise nach Sizilien

456                  Tod

 

Auf dieser Zeittafel sehen Sie seine Biographie im Überblick und hier sind auch die erhaltenen Werke verzeichnet:

Die Perser,
Sieben gegen Theben,
Prometheus,
Die Schutzflehenden,
Orestie

Ich möchte Ihnen nun einige, wie ich glaube, markante Textbeispiele zeigen, an denen sich das Selbstverständnis, die Weltsicht und die Aussageinhalte insgesamt des Aischylos, die für die attische Tragödie bezeichnend sind, in besonderer Weise zeigen lassen.

Beginnen wir mit den Persern, jenem wenige Jahre nach Salamis und Plataiai verfassten Werk, in dem Aischylos diesen geschichtlichen Stoff aufgreift und die Lehren aus der persischen Niederlage zu ziehen versucht.

Das Drama spielt am Hof von Susa, wo Atossa, die Mutter des Großkönigs Xerxes, unheilahnend auf Nachrichten aus Salamis wartet. Ihr erscheint der Geist des verstorbenen Dareios, ihres Gatten und Vaters des Xerxes, der vor weiteren Unternehmungen warnt.

 

Text 1 (Vers 230-245)

  At          Eins zu wissen wünscht’
[ich noch:
Freunde, wo ist dies Athen wohl auferbaut auf unsrer Welt?

              Chf     Fern im Westen, wo der Herrscher Helios schwindend
[untergeht.

At       Gleichwohl trug mein Sohn Verlangen, zu erbeuten diese
[Stadt?

Chf     Würde doch das ganze Hellas so dem König untertan.

At       So steht ihnen zu Gebote Volk in Masse für ein Heer?

Chf     Und was für ein Heer ist’s! Bracht’ es doch die Meder oft
[in Not!

At       Ist gespannten Bogens Pfeilschuß ihrer Mannen Hand ver-
[traut?

Chf     Nein, durchaus nicht. Nahkampfspeere, Rüstung führen
[sie und Schild.

At        Was ist ihnen sonst zu eigen? Reichtum, der die Häuser füllt?

Chf    Silbers eine Quelle hegen sie, des Bodens größter Schatz.

At      Und wer führt, dem Volk ein Hirte, und gebeut, Zwingherr
[dem Heer?

Chf    Keines Menschen Sklaven sind sie, keinem Manne untertan.

At      Wie dann können sie sich halten, wenn sich Männer feind-
[lich nahn?

Chf     So, daß ihnen des Dareios großes, schönes Heer erlag !

At      Schlimmes sagst du da, was ferner Söhne Eltern Sorge
[macht!

Aischylos, Perser, 230-245

Aus: Aischylos, Übersetzung Oskar Werner, München 1969².

 

Hier ist es insbesondere die positive Charakterisierung der Athener respektive Hellenen, die hervorsticht:

Im Gegensatz zu den Persern und allen anderen Völkern der damals bekannten Welt sind sie frei!

Keines Menschen Sklaven sind sie. Das macht ihre einzigartige Qualität aus, das befähigt sie auch zu besonderen Leistungen im Krieg, die die Perser schmachvoll zu spüren bekommen haben.

Etwas weiteres kommt hinzu:            Sie kämpfen mutig Mann gegen Mann – Auch im Nahkampf,
Hinterhältige und feige Pfeilschützen wie der Troer Paris oder der törichte Lykier Pandaros in der Ilias sind sie nicht.
Eher sind sie den mykenischen Helden vergleichbar und führen Rüstung und Schild.

 

Text 2 (Vers 743-764 n. 809-828)

Da       Nun liegt klar des Unheils Quelle allen Freunden aufgedeckt:
Hat mein Sohn doch unbesonnen dies vollbracht in Jugend-
[trotz,
Daß den Hellespont, den heilgen, knechtgleich er durch
[Ketten zu
Bändgen hofft’ im Strömen, ihn, den Bosporos, des Gottes
[Strom ;
Daß des Meersunds Lauf er störte und, mit Fesseln erz-
[geschweißt
Ihn umwindend, die gewaltge Straße schuf gewaltgem
[Heer !
Er – ein Mensch – die Götter alle glaubt’ er voller Un-
[verstand,
Selbst Poseidon zu beherrschen. Hielt nicht Krankheit die
[Vernunft
Meines Sohns umstrickt? Ich fürchte, all mein Reichtum,
[Frucht und Lohn
Meiner Mühe, andern wird er, wer zuerst ihn greift, zum
[Raub.

At      Solchen Geist nahm, schlechter Männer Umgang suchend,
[in sich auf
Unser stürmscher Xerxes; sagten sie doch, daß den Kindern du
Reichtums Füll erwarbst im Speerkampf, er jedoch – aus
[feigem Sinn –
Führ’ im Haus den Speer, der Väter Erbgut lass’ er un-
[gemehrt.
Solchen Vorwurfs Schmähung hört’ er oft aus böser Männer
[Mund;
Drum beschloß er diese Kriegsfahrt mit dem Heer nach
[Hellas’ Gaun.

Da     So ward von jenen ja ein Werk zustandgebracht,
Gewaltig, höchst denkwürdig, das in Schicksals Lauf
Susa, die Stadt, entvölkerte, wie’s nie geschah,
Seitdem uns Zeus der Herrscher solche Ehre gab,
Daß ein Mann nur ganz Asiens herdenreiche Flur
Regier’ in seines Szepters herrschender Gewalt.

Da       Die sich auf Hellas’ Boden Götterbilder nicht
Gescheut zu rauben noch Brand zu legen an ihr Haus:
Altäre – spurlos fort, der Gottheit Bilder – ganz
Entwurzelt, um und um gestürzt aus Sockels Grund!
So bös nun ihre Taten, kleiner nicht ist, was
Sie dulden und was – droht; ist doch vom Bösen noch
Kein Grund zu sehn, nein, immer neu quillt es hervor:
So groß wird sein der Opferkuchen, blutgetränkt,
Den auf Plataiererde dorische Lanze wirkt.
Und Haufen Leichen werden noch im dritten Glied
Lautlos kundtun den Augen aller Sterblichen,
Daß übers Maß ein Mensch nicht heben soll den Sinn.
Denn Hochmut, aufgeblüht, bringt Frucht im Ährenkorn
Der Schuld, draus tränenreiche Ernte mäht der Herbst.
Wenn solche Schuld ihr schaut und Strafe solcher Schuld,
Gedenkt Athens und Griechenlands, daß keiner je,
Mißachtend seines Daseins gottgesandtes Los,
Fremdes begehrend, fortgießt eignes großes Glück!
Denn Zeus, Zuchtmeister über allzu unbezähmt
Hochmütigen Sinn, waltet des Rechts, ein strenger Wart.

Aischylos, Perser, 743-764 und 809-828

Aus: Aischylos, Übersetzung Oskar Werner, München 1969².

 

Drei Dinge fallen in diesem Dialogteil zwischen Dareios und Atossa auf.

Es ist einmal die Warnung vor menschlicher Hybris, die Xerxes nicht beachtet hat. Unbesonnen und auf schlechte Berater hörend hat er unkalkulierbare Risiken auf sich genommen, sich sogar mit der Natur angelegt und ist kläglich gescheitert.

Maß zu halten, nicht Fremdes zu begehren, mit dem eigenen Glück zufrieden zu sein – dies ist die zweite Botschaft an die Zuschauer – Wer mag, kann hierin auch eine Warnung an die Adresse der Athener sehen, die nach ihren Siegen gegen die Perser einen aggressiven Expansionskurs im östlichen Mittelmeer begannen.

Der dritte Hinweis ist die Warnung, dass Unrecht Unrecht in Potenz erzeugt. Das Unrecht, das die Perser in Hellas anrichteten, fällt im Übermaß auf sie zurück. Denn Zeus, als Zuchtmeister, waltet des Rechts, ein strenger Wart!

 

Text 3 Die Schutzflehenden (Vers 397-427)

Kö     Welch schweres Urteil! Wähle nicht zum Richter mich!
Sagt’ ich’s doch vorher: nicht möcht’ ohne Volk ich dies
Durchführen, hätt ich gleich die Macht; und niemals soll
Mein Volk mir sagen, fügt sich’s irgendwie nicht gut:
„Landfremde ehrtest, eignes Land verheertest du!”

Ch     Mit uns beiden gleichen Bluts, lenkt her den Blick
Zeus; wägend das Geschick, weist er, wie sich ziemt,
Unrecht zwar Schlimmen zu, doch Frommes Redlichen.
Was reut’s dich, da gleich die Wagschalen stehn,
Wenn du das Rechte tatest?

Kö     Not tut tiefgründges Denken uns, das Rettung sucht;
In Tauchers Weise muß man in die Tiefe gehn,
Das Auge klaren Blickes, nicht vom Wein getrübt,
Daß ohne Schaden dies zunächst für unsre Stadt
Und für uns selber auch zu gutem Ende kommt,
Daß weder Streiten sich an eure Rettung schließt,
Noch daß wir, euch Schutzflehnde an der Götter Sitz
Preisgebend, uns den Gott, den allvernichtenden,
Zum grimmen Hausfreund nehmen, ihn, den Rachegeist.
Der selbst im Hades niemals frei den Toten gibt.
Scheint da nicht not ein Denken uns, das Rettung sucht?

Ch    Denke nach! Werde du
Allgerecht-frommer Gastschützer uns!
Mich, den Flüchtling, gib nicht preis,
Mich, die fernher Schmach und Bann
Ruchlos forttrieb von Haus!
Sieh nicht zu, wie vom Sitz,
Göttersitz, sie mich fortreißen, oh,
Allgewaltger du des Lands!
Sieh der Männer Frevelmut,
Wahr dich vor Göttergroll! –

Aischylos, Die Schutzflehenden, 397-427

Aus: Aischylos, Übersetzung Oskar Werner, München 1969².

 

Die Schutzflehenden, offensichtlich im Jahr 463 v. Chr. verfasst, sind der einzig erhaltene Teil einer Tetralogie, die das Schicksal der Danaiden beinhaltet.

Als die 50 Söhne des Aigyptos die 50 Töchter des Danaos zur Ehe zwingen wollen, fliehen diese mit ihrem Vater aus Ägypten nach Argos, in die Heimat ihrer Stammmutter Io. Dort werden sie von König Pelasgos gastlich aufgenommen, der ihnen Schutzrecht gewährt. Zum Interessenkonflikt kommt es aber, als das Heer des Aigyptos vor Argos erscheint und unter Drohungen für die Stadt die Herausgabe der Mädchen verlangt. Um diesen grundlegenden Interessenkonflikt geht es in unserem Textabschnitt.

Zwei Gesichtspunkte sind es, die in diesem Textabschnitt auffällig sind:

Zum einen der Hinweis von König Pelasgos auf die Mitwirkung des Volkes bei der schweren Entscheidung, ob die Schutzflehenden ausgeliefert werden oder nicht. Der König will nicht ohne Volk entscheiden – dies ist auch ein klarer Hinweis auf die demokratische Praxis, wie sie sich in Athen im 5. Jhdt. durchgesetzt hatte.

Zum anderen geht es in diesem Textteil um grundsätzliche ethische Fragen der Staatsführung. Soll man sich dem äußeren Druck beugen, sich gleichsam von Staats wegen erpressen lassen, um vordergründig Schaden von der Stadt abzuwehren – oder soll man widerstehen – Dies umso mehr, als göttliches Recht Schutzflehenden Hilfe gewährt.

Es sind die großen Fragen der Politik:

  • Kirchenasyl gegen Fremdengesetze,
  • Göttliches Recht im Verhältnis zu Gewaltandrohung
  • Darf sich der Staat erpressen lassen?

die in diesem Textteil die Inhalte bilden.

Es siegt die Einsicht, die aus tiefgründigem Nachdenken resultiert und sich freimacht von äußerem Druck: Die Einsicht, den Schutzflehenden die Hilfe nicht zu entziehen.

Wenden wir uns nun dem zweiten großen Tragiker zu: Sophokles, der von 496-406 lebte, also etwa eine Generation jünger ist als Aischylos.

 

Aus: Satyr, Maske, Festspiel. Katalog einer Ausstellung im Winckelmann-Museum, Abb. 14, S. 19, Stendal 2006.

 

Seine Lebensblüte, oder wie die Griechen sagten: seine Akme, fällt damit in die Ära der vom griechischen Historiker Thukydides so genannten Pentekontaetie, das sind die 50 Jahre vom Ende der Perserkriege bis zum Beginn des Peleponnesischen Krieges 431. Es ist dies die Hochzeit der attischen Demokratie, die mit dem Namen Perikles untrennbar verbunden ist, mit dem Sophokles eng befreundet war. Die Herrschaft des Volkes beinhaltete dabei die nahezu erreichte Identität zwischen Herrschenden und Beherrschten, die durch Basisdemokratie, kurze Amtszeiten, Verteilung der Ämter der Politiker und Richter auf viele Schultern und das Lossystem erreicht wurde. Durch die Besoldung der Ämter und weitere Maßnahmen wie die Bezahlung der Theaterbesuche wurde die Abkömmlichkeit auch einfacher Bürger sichergestellt, um am öffentlichen Leben aktiv teilzunehmen und es wurde in der Intention das aristokratische Ethos des ursprünglich herrschenden Adels auf die nun herrschenden Bürger als Selbstverständnis übertragen. Der einfache Bürger ist damit untrennbar in das Staatsgeschehen eingebunden, er ist als Polit Träger der Polis und für sie verantwortlich. Alles, was den Staat betrifft, geht ihn direkt etwas an. Gewollt ist somit eine Politisierung der ganzen Bürgerschaft, die in der Archaik nur dem Adel zustand.

Vor diesem Hintergrund sind die Werke des Sophokles zu sehen, die wichtige Themen des göttlichen und menschlichen Rechtes, der Ethik und der richtigen politischen Handlungsweise betreffen.

 

In der Übersicht sehen Sie kurze Hinweise auf die 7 uns erhaltenen Dramen. Die überwältigende Anzahl der von ihm insgesamt geschaffenen 123 Dramen ist verloren gegangen.

 

 

Aias: der Inhalt ist das tragische Geschick des Aias. Sich als erster

der Helden der Griechen vor Troja fühlend, muß er es sich

gefallen lassen, daß die Waffen des gefallenen Achilles nicht

ihm, sondern Odysseus zugesprochen werden. So verfällt er in

Schwermut und Wahnsinn, beschließt, die Atriden und Odysseus

zu ermorden, schlachtet an ihrer Stelle eine Herde Schafe ab

und gibt sich, als er aus seiner Raserei erwacht, selbst den Tod.

       Elektra: der Inhalt ist die Ermordung Klytämnestras durch

        Orestes, wobei Elektra eine wichtige Rolle spielt.

        Ödipus tyrannus: gewöhnlich „König Ödipus” genannt. Inhalt:

die alte thebanische Sage von Ödipus, der ohne Wissen seinen

Vater erschlägt, seine Mutter heiratet und sich aus Verzweif-

lung darüber die Augen aussticht.

Antigone: höchstwahrscheinlich 442 v. Chr. aufgeführt.

Trachiniä: die Trachinierinnen, so genannt nach dem Chor von

Jungfrauen aus Trachis, einer thessalischen Stadt am Öta. In­-

halt ist das tragische Geschick des Herkules, das er durch das

vergiftete Gewand seiner eifersüchtigen Gattin Deianira er-

leidet.

     Philoktetes: aufgeführt 409 v. Chr. und mit dem ersten Preis aus-­

gezeichnet. Inhalt: die Sage von dem Königssohne Philoktetes,

der, auf der Fahrt nach Troja von einer giftigen Schlange ge­-

bissen, von Agamemnon und Menelaus auf den Rat des Odys­-

seus wegen des abscheulichen Geruches seiner Wunde schlafend

auf der öden Insel Lemnus ausgesetzt und im letzten, zehnten,

Kriegsjahre auf Grund einer Weissagung des troischen Sehers

Helenus von Odysseus und Neoptolemus nach Troja geholt wird.

    Ödipus auf Kolonus: den Inhalt bildet die ergreifende Schil­-

derung des Endes des blinden Ödipus im Haine der Eumeniden

auf Kolonus.

In dem Textabschnitt aus der Antigone, auf den ich jetzt verweisen möchte (Vers 439-470), geht es darum, dass Antigone ihren Bruder Polyneikes, der Theben belagert hatte, entgegen der Anweisung des Kreon, der nur den bei der Verteidigung der Stadt gegen seinen Bruder gefallenen Eteokles zu bestatten erlaubt hatte, begraben hat. König Kreon stellt sie deshalb anklagend zur Rede.

 

(Vers 439-470)

 

  1. Sprich denn, du, die das Haupt zu Boden niederbeugt:

bekennst du oder leugnest du, daß du’s getan?

  1. Ja, ich bekenne, daß ich’s tat, und leugne nicht.
  2. (zum Wächter).

Du also hebe dich hinweg, wohin du willst:

du bist befreit von dieses schweren Vorwurfs Last.

(Der Wächter ab.)

Du aber sage mir, ohn’ Umschweif, sondern kurz:

du wußtest, daß geboten war, dies nicht zu tun?

  1. Ich wußt’s. Wie sollt’ ich nicht? Es ward ja deutlich

kund.

  1. Und wagtest doch, zu übertreten das Gebot?
  2. Es war ja Zeus nicht, der es mir verkündet hat,

noch hat die Gottheit, die den Toten Recht erteilt,

je für die Menschen solche Satzungen bestimmt.

Auch glaubte ich, soviel vermöchte kein Befehl

von dir, um ungeschriebne, ewige, göttliche

Gesetze zu überrennen als ein Sterblicher.

Denn nicht von heut und gestern, sondern immerdar

bestehn sie: niemand weiß, woher sie kommen sind.

Aus Furcht vor eines Menschen Willen wollt’ ich mich

am Recht der Götter nicht vergehn; ich wußte ja,

daß ich einst sterben werde – warum sollt’ ich nicht? –,

hättst du’s auch nicht vorher verkündet; doch wenn ich

nun vor der Zeit schon sterbe, nenn’ ich’s nur Gewinn.

Denn wer wie ich in mannigfachem Leide lebt,

wie trüge der im Tode nicht Gewinn davon?

Drum ist es mir nicht schmerzlich, daß dies Schicksal

                                      jetzt

mich trifft; doch litte ich’s, daß meiner Mutter Sohn

als unbegrabner Leichnam draußen liegen bleibt,

das schmerzte mich; doch dies hier macht mir keinen

Schmerz.

Und schein’ ich dir verfallen auf ein töricht Tun,

so ist’s vielleicht ein Tor, der mich der Torheit zeiht.

 

Sophokles, Antigone, 439-470

Aus: Die griechische Literatur in Text und Darstellung, Klassische Periode I, Reclam, Stuttgart 1986.

 

Was bei den Schutzflehenden der Aischylos schon angeklungen war, der Zwiespalt zwischen göttlichem Recht und menschlichen Ansprüchen und Satzungen, wird in dieser Szene durch Sophokles zugespitzt und eindeutig beantwortet. Es sind die großen ethisch-politischen Fragen, die uns bis heute bewegen, die den Hintergrund dieses Textes bilden:

Gibt es ein Widerstandsrecht des Einzelnen gegen den Staat?

Welche Bindungskraft hat ein Treue- oder Fahneneid?

Ist ein Tyrannenmord erlaubt?

Wie müssen von Menschen gemachte Gesetze aussehen, um vor göttlichem Recht Bestand zu haben?

Die Antwort, die Antigone hierzu gibt, ist klar:

Die ewig gültigen, göttlichen Rechte, die jeder in seinem Gewissen bei ernsthafter Prüfung erkennt, sind zu beachten und haben Vorrang vor menschlichen Satzungen. Es ist die freie Entscheidungsmöglichkeit jedes Einzelnen, den richtigen Weg zu wählen, der oft der schwierigere ist, da er mit persönlicher Gefährdung verbunden sein kann.

Schon bei Sophokles wird also an die Kraft des freien Willens des Menschen appelliert, was in weitgehend abgewandelter Form bei dem eine halbe Generation jüngeren Euripides (circa 480-406) seine Fortsetzung findet.

Aus: Satyr, Maske, Festspiel, Katalog einer Ausstellung der Winckelmann-Gesellschaft, Abb. 15, S. 19, Stendal 2006.

 

Zwar fällt seine Akme damit auch in die Zeit der blühenden Attischen Demokratie, doch ist bei ihm der Einfluss der sophistischen Lehre, die den Menschen, nicht mehr die Götter, zum Maß der Dinge erhebt, sowie der Einfluss bestimmter Naturphilosophien wie Anaxagoras, die Naturphänomene ausschließlich naturwissenschaftlich erklären, anders als bei Sophokles, der der traditionellen Göttervorstellung verpflichtet ist, deutlich zu verspüren.

Euripides ist damit Exponent der Unsicherheit, des Zweifels und der heraufziehenden Krise, die sich im Peloponnesischen Krieg äußert, gleichzeitig kluger und einfühlsamer Analysator des Individuums und seiner Psyche sowie des Ausgeliefertseins des Menschen gegenüber einer als unberechenbar erscheinenden Welt. Von den insgesamt 90 von ihm verfassten Dramen, die trotz seiner Skepsis gegenüber mythologischen Vorstellungen mythische Stoffe zum Inhalt haben, sind 18 erhalten, deren Entstehungszeit nach dem Jahr 438 liegt. Sichere Aufführungsdaten sind bekannt für Alkestis (438), Medea (431), Hippolytos (428), Troerinnen (415), Helena (412) und Orest (408).

Mit Ausnahme des Dramas Alkestis gehören sie damit in den Zeitraum des Peloponnesischen Krieges, dessen Verlauf nach dem Tod des Perikles (429) zunehmend durch irrationale Verhaltensweisen der ihm nachfolgenden Politiker gekennzeichnet war.

In dem 415 aufgeführten Stück „die Troerinnen“, Teil einer Tetralogie, dessen andere Teile Alexandros und Palamedes verloren sind, geht Euripides auf das Schicksal der nach dem Fall Troias den Siegern in die Hände gefallenen Frauen ein, die als Sklavinnen nach Hellas verschleppt werden sollen.

In dem hier ausgewählten Textteil tröstet Kassandra, Tochter des schon getöteten Königs Priamos, ihre Mutter Hekabe, die darum trauert, dass Kassandra dem König Agamemnon von Mykene als Sklavin ins Brautbett folgen soll.

 

(Text 319-21)

 

KASSANDRA:

Mutter, bekränz’ mein Haupt, auf dem der Sieg schon

strahlt;

Frohlock’ ob meines königlichen Bettes; schick’

Mich fort! Und wenn ich irgend lässig scheine, treib’

Mich mit Gewalt! Lebt wirklich Loxias, der Gott,

Freit Agamemnon, der gepries’ne Griechenfürst,

Mit mir ein unheilvoller Weib als Helena.

Denn Tod bedeut’ ich ihm; ich bin’s, die ihm sein Haus

Zerstört, rächend die Brüder und den Vater mein.

Genug hiervon! Nicht will ich singen von dem Beil,

Das meinen Nacken und den Nacken andrer schlägt;

Vom Graun des Muttermords nicht, der ob meines

Bunds

Geschieht; schweig’ auch den Untergang von Atreus’

Haus.

Doch zeig ich klar, daß unsrer Stadt ein seliger Los

Ward als den Griechen; bin ich gottbesessen auch,

Bei diesen Worten steh’ ich ferne jedem Wahn.

Sie jagten Helena, der einen, nach, ob einer Lieb’,

Und für die eine büßten Tausende mit Tod.

Und er, der weise Feldherr, für das Schändlichste

Gab er sein Liebstes, gab des Hauses Licht, sein Kind:

Dem Bruder opfert’ er’s und tat es für ein Weib,

Das nur der freie Wille, nicht Gewalt entführt’.

Als sie dann endlich des Skamandros Ufer sah’n,

Starben sie, doch im Kampf nicht für die eig’ne Flur

Noch auf des Landes Burgen. Die der Krieg entrafft’,

Blickten ins Aug’ der Kinder nicht; der Gattin Hand

Schenkt’ keine Hülle ihrem toten Leib; sie ruhn

In fremder Erde. Die Heimat traf das gleiche Los.

Die starb verwitwet; jener, dessen Söhne fern,

Zog sie vergebens groß, denn jetzt an seinem Grab

Steht keiner, der den Boden tränkt mit Opferblut.

Ihr seht nun, welcher Preis der Feinde Heer gebührt;

Und ich, verschweig’ noch allen Schimpf, daß nicht

das Lied

Zu einer Stimme werde, die nur Arges singt.

Jedoch die Troer – und dies ist der schönste Ruhm –

Starben für’s Vaterland. Welchen der Speer entrafft’,

Da trugen Freundesarme den Toten in sein Haus;

Hatt’ ihn die Hand bestattet, der es fromme Pflicht

Gebeut, deckt’ Erd’ von seiner Väter Flur ihn zu.

Und von den Phrygern, wer im Kampf nicht fiel, der

weilt’

Daheim mit Weib und Kindern allzeit, Tag für Tag,

Freuden, die den Achaiern fehlten. Hektors Los,

Das bitter scheint, hör’, wie’s mit ihm in Wahrheit steht!

Wohl starb er uns, dem keiner gleicht an Ruhm; jedoch

Geschah’s durch der Achaier Kommen. Wären sie

Daheim geblieben, hätt’ sein Heldentum geblüht?

 

Zeus’ Tochter freite Paris, hätt’ er sie nicht gefreit,

Noch schliefe im Palast die Kund’ von seiner Eh’.

Den Krieg zu meiden, ist des Weisen Pflicht. Doch kam

Der Krieg, dann ist ein rühmlich Sterben für die Stadt

Kein schlechter Kranz; unedler Tod indes bringt

Schmach.

Beklage darum, Mutter, nicht dein Land, und nicht

Das Bett, das man mir aufzwingt; denn durch dieses

Bett

Richt’ ich zu Grund’, die dir und mir zumeist verhaßt.

 

Euripides, Troerinnen, Vers 353-405

Aus: Euripides, Übersetzung Ludwig Wolde, Wiesbaden 1949.

 

 

Drei Dinge sind es, die in diesem Textteil in besonderer Weise auffällig sind:

– Zum einen die hohe Bedeutung, die menschlichem Ruhm zugemessen wird. In einer Welt, in der vieles unsicher und fragwürdig geworden ist, ist der Ruhm, den Individuen sich erwerben können, eine Konstante, die wichtig ist. Der von jeher hohe Stellenwert des Ruhmes bei den Griechen, der auch mit ihren trostlosen Jenseitsvorstellungen zusammenhängt – ist doch der Hades ein Ort der Dunkelheit und des Moders – gewinnt in der Zeit der Krise eine noch höhere Wertschätzung.

 

– Zum anderen ist es die Schonungslosigkeit und Deutlichkeit, mit der Schwächen, Vergehen und Grausamkeit der Griechen angesprochen werden, sowie die mitfühlsame Art, in der das Leiden und das Unglück der Troier geschildert wird. Dies lässt wie schon bei den Persern des Aischylos Rückschlüsse zu auf die Toleranz des Dichters und seines Publikums und erinnert an Passagen der Ilias des Homer, die den Eindruck vermitteln können, als charakterisiere der Dichter Hektor und Priamos sympathischer als ihre Antagonisten Achill und Agamemnon.

 

– Drittens – und dies ist das wirklich eindrucksvolle an dieser Stelle – ist durch die drastische Schilderung des kommenden Sturzes des Agamemnon und seiner siegreichen Gefährten ein deutlicher Zeitbezug erkennbar. Die Unberechenbarkeit des Krieges, zumal wenn er durch eine Person willkürlich verursacht wird und in wildfremde Gegenden führt, wird überdeutlich betont. „Den Krieg zu meiden, ist des Weisen Pflicht“. Wenn er aber nicht zu vermeiden ist, dann ist er unmittelbar zur Verteidigung der Stadt zu führen. Dies war die Strategie des Perikles gewesen. Seine Nachfolger aber wichen davon ab. Und im Jahr 415, dem Aufführungsjahr der Troierinnen, machte sich eine riesige athenische Flotte daran –  verleitet von dem Demagogen Alkibiades – ins ferne Sizilien aufzubrechen, um Syrakus zu erobern und ein Großattisches Reich zu gründen. Betört von einer Person, um sinnlos in fremder Erde zu sterben – Davor warnt der Dichter seine Athener in besonderer Eindringlichkeit.

Das Drama somit ein Instrument, um in freier unbeeinflusster Rede zu hochaktuellen, wichtigen politischen Fragen und Entscheidungen pointiert Stellung zu beziehen und Einfluss zu nehmen auf die Meinungsbildung der Bürgerschaft.

Wenige Jahre zuvor, nämlich 421 v. Chr., hatte der Komödiendichter Aristophanes

Aus: Aristophanes. Sämtliche Komödien, Einband, München 1976.

 

mit der gleichen politischen Zielsetzung in seiner Komödie „der Frieden“ der Friedenssehnsucht der Hellenen, die einen schon 10-jährigen Krieg ertragen mussten, humorvoll, aber selbstkritisch und drastisch Ausdruck verliehen.

Der Winzer Trygaios ist auf einem riesigen Mistkäfer in den Himmel geritten, um die Götter um Frieden zu bitten. Dort angekommen trifft er auf den alleine dort zurückgelassenen Hermes.

 

HERMES:                              Oho, oho!

Da wird nun leider nichts daraus! Die Götter

Sind gestern fort aus dem Quartier gezogen.

TRYGAIOS: In welches Land?

HERMES:                                  Was, Land?

TRYGAIOS:                                                 Wohin denn?

HERMES:                                                                             Weit

Tief innerst in des Himmels Bienenzellen.

TRYGAIOS: Weswegen ließ man dich allein zurück?

HERMES: Ich muß das Hausgerät der Götter hüten,

Die Krügchen, Schüsselchen und Täfelchen.

TRYGAIOS: Weswegen zogen denn die Götter aus?

HERMES: Aus Ärger über die Hellenen! Haus

Und Hof erhielt dann zum Quartier der Krieg.

Der darf mit euch nun schalten, wie er will.

Sie selber zogen in den höchsten Äther,

Um nichts zu sehn von eurem Blutgemetzel

Und nichts von eurem Klaggeschrei zu hören.

TRYGAIOS: Warum behandeln sie uns so? Warum?

HERMES: Weil ihr den Krieg gewollt, sooft die andern

Euch Frieden boten; waren die Spartaner

Kaum wieder obenauf, dann riefen sie:

»Bim Donner, mer wei’s ech zeigen, ihr Athener!«

Wenn ihr Athener dann im Vorteil wart

Und die Spartaner suchten nach um Frieden,

Gleich schriet ihr wieder: »Was? Man will uns prellen,

Nein, bei Athene, traut nicht! Ja, bei Zeus,

Sie kommen wieder; denn wir haben Pylos!«

TRYGAIOS: Nun ja, die Sprache führt man hierzulande.

HERMES: Drum weiß ich nicht, ob ihr die Friedensgöttin

Noch je zu sehn bekommt.

TRYGAIOS:                                  Wo ist sie denn?

HERMES: Der Kriegsgott warf sie in ein tiefes Loch.

TRYGAIOS: Ei, wo denn?

HERMES auf die Mitteltür der Szene deutend, die eine zugeschüttete Höhle

            vorstellt:                   Da hinunter, und du siehst,

Wie er’s mit Steinen zugedeckt, damit

Ihr nie heraus sie kriegen sollt.

TRYGAIOS:                                         Und dann?

Was hat er vor mit uns? Das sag mir doch!

HERMES: Ich weiß nur eins, daß gestern abend er

’nen ungeheuren Mörser beigeschleppt.

TRYGAIOS: Was will er denn mit diesem Mörser machen?

HERMES: Die Städte will er drin zu Brei zerstampfen. –

Doch ich muß fort! Mich dünkt, er kommt soeben

Heraus; er poltert drinnen schon. Ab.

TRYGAIOS:                                          O weh,

Ich lauf davon: mir ist es grad, als hätt ich

Auch selbst gehört den Klang des Schlachtenmörsers. Versteckt sich.

DER KRIEG kommt mit einem riesigen Mörser heraus:

Du Brut, du Brut, verruchte Menschenbrut!

Euch soll das Wetter in die Zähne fahren!

TRYGAIOS: Apollon! Dieser Mörser, welch ein Umfang!

Wie furchtbar! Und der Krieg erst – welch ein Blick!

Der ist’s, der Schreckliche, vor dem wir zittern,

Der Stierschildschwinger, der uns Beine macht!

 

Aus: Aristophanes sämtliche Komödien, Der Frieden, I, 195-240, DTV, München 1976.

 

Wenn es, wie es der römische Dichter Horaz in seiner ars poetica ausdrückt, Aufgabe der Komödie ist, lächelnd die Wahrheit zu sagen (ridentem dicere verum), dann kann Aristophanes (450-388) als klassischer Vertreter der Komödie gelten.

In unserer Textstelle geißelt er das Verhalten sowohl der Athener als auch der Spartaner. Um jeweils kleiner Kriegsvorteile Willen, haben sie 10 Jahre lang den Frieden verhindert. Die Folge ist, dass der Dämon Krieg übermächtig geworden ist, die Friedensgöttin in eine Schlucht gestoßen und mit Steinen begraben hat und nun die Städte Griechenlands ohne Unterschied der politischen Zugehörigkeit in einem riesigen Mörser zermahlen will. Verzweifelt ob der Torheit der Hellenen, wenden sich die Götter ab, da ihre Friedensangebote von den Menschen abgelehnt werden.

Auch in den anderen 10 erhaltenen Komödien, ich nenne beispielhaft nur die Ritter (424), die Vögel (414) und Lysistrata (411), griff Aristophanes aktuelle politische Ereignisse überdeutlich auf und äußerte freimütig seine Kommentare. Dies war ihm möglich, weil die attische Demokratie konstitutiv durch Rede-, Meinungs- und Schreibfreiheit charakterisiert war, was genialen Dichtern ideale Voraussetzungen ihrer Schaffensfreude bot. Mit dem Fortfall dieser Möglichkeiten im Hellenismus und den Epochen danach verblasste die politische Aussagekraft des Dramas. In Hellenistischer Zeit wich die neue Komödie eines Menander auf die Darstellung skurriler menschlicher Charaktere aus: geizige Väter, verwöhnte Söhnchen, eingebildete Kranke, immer hungrige Parasiten. Dies wurden die ständig wieder kehrenden Figuren der neuen Komödie, die über die Lateiner Plautus und Terenz Eingang in die abendländische Literatur fanden.

 

Ich fasse zusammen:

Die Faszination der Entstehung des abendländischen Dramas besteht darin, dass es konstitutiv mit dem Freiheitsgedanken und der Demokratie verbunden ist. Das Drama wendet sich an freie Bürger einer freien Polis, an Bürger, die es gewohnt sind, über alle politischen Belange ihrer Stadt mit zu entscheiden. Insofern sind alle Grundfragen der Ethik, der Religion, des politischen und menschlichen Verhaltenskodexes zentrale und nicht wegzudenkende Inhalte des Dramas. Vor diesem Hintergrund sind in der kurzen Zeitspanne der griechischen Klassik immer währende, ewig gültige Werke der Tragödie und Komödie entstanden, deren Aussagekraft bis heute besteht und die immer wieder dazu anregen, sich mit existenziellen Fragen des menschlichen Lebens zu befassen.

Als Johann Joachim Winckelmann

 

Johann-Joachim Winckelmann. Aus: Winckelmann-Museum. Ein Gang durch die Ausstellung, S. 131, Stendal 2019.

 

dann in der Mitte des 18. Jhdts. seine These vertrat, dass Freiheit die Voraussetzung zur Schaffung wahrer Kunst sei und er dies an der griechischen Kunst exemplifizierte, wurde er einer der Wegbereiter der deutschen Klassik und des Neuhumanismus, deren Ziel die Befreiung des Menschen aus der spätabsolutistischen Bevormundung war. Dies gab der intensiven Beziehung der deutschen Literatur mit den griechischen Klassikern neuen Auftrieb, was unsere Theaterbühnen bis heute bereichert.